Lebendige Viertel durch Quartiersentwicklung
Die alten Männer von Boston kennen das lange Gebäude am Hafen noch zu gut. Manche haben hier in diesem 410 Meter langen Klotz noch für die Marine gearbeitet, als er als Lagerhaus der US-Armee diente. 50.000 Menschen hatten hier einst ihren Arbeitsplatz.
Das 1915 erbaute Gebäude kam später dann über die Jahrzehnte immer weiter herunter. Die Hälfte aller Flure auf den acht Stockwerken stand leer, ein Sanierungsfall. Jetzt aber erscheint es wie wachgeküsst. In neuem, weißem Glanz posiert der imposante Komplex wieder für die Ankömmlinge direkt am Hafeneingang von Boston und heißt „Innovation and Design Building“. Die Immobilie beherbergt mittlerweile 200 Mieter aus Branchen wie Design, Forschung und Ingenieurwesen. Und der Sportartikel Hersteller Reebok hat hier jetzt mit 1.500 Mitarbeitern seine neue Firmenzentrale.
Das Innovation and Design Building ist mittlerweile Anker der Bostoner Innovationswirtschaft. Und eines von vielen Beispielen, wie Projektentwickler historische, markante Gebäude wieder zu neuem Leben erwecken und dabei verschiedene Nutzungsarten wie Wohnen, Büro- und Einzelhandel in einem Gesamtkonzept miteinander verbinden. Mal ist es eine alte Fabrik, mal ein ehemaliges Verwaltungsgebäude oder leerstehende Blöcke in zentralen Innenstadtlagen. Ein globaler Trend und daher für Entwickler, Architekten und Städteplaner zunehmend zentrales Thema auf diversen Fachkongressen.
Die Immobilienexperten haben dafür einen neuen Begriff geprägt: Quartierentwicklung – die Königsdisziplin der Projektentwicklung. Quartiere gelten unter Profis schon als eigene Assetklasse. Wurden früher Gebäudeteile getrennt betrachtet und veräußert, so erfolgen heute größere Bauvorhaben oder Umbauten in einem breit angelegten Projekt, in dem verschiedene Parteien ein Gesamtkonzept erarbeiten und gemeinsam umsetzen. Trotzdem garantiert dieser Ansatz nicht automatisch eine Erfolgsgeschichte. Leider entstehen auch immer wieder aus einer gewissen Lieblosigkeit heraus lediglich charakterlose Quartiere, die eher den Eindruck einer Geisterstadt vermitteln.
Worauf also achten verantwortungsvolle Projektentwickler? Es genügt eben nicht, wenn ein Wohnungsspezialist schöne Apartments baut und jemand anderes daneben Büros ausstattet und anschließend ein Dritter ein Restaurant eröffnet. Jedes Objekt steht in einer Wechselbeziehung mit seiner Umgebung und erst die Interaktion zwischen verschiedenen Nutzungsarten führt zu einem pulsierenden Quartier. Die Mischung macht’s: Wohnen und trendige Gastronomie gehören ebenso dazu wie Shopping- und Freizeitangebote, alles getragen von guter Anbindung an Bus und Bahn und E-Mobilität. An einem Ort arbeiten, wohnen und leben, lautet die Devise, wie in einem Dorf in der Stadt.
Erforderlich ist hierfür ein umfassendes Nutzungskonzept für die gesamte Umgebung aus einer Hand. Innovative Projektentwickler gehen dabei auf die Bedürfnisse der Mieter und Anwohner ein. Sie stimmen Gastronomiekonzepte aufeinander ab und die Beschilderungen folgen einem einheitlichen Konzept. Infrastruktur und Anbindung an verschiedene Verkehrsmittel werden im Zusammenspiel mit den Behörden detailliert geplant. Und schließlich entsteht in der Folge eine Gemeinschaft („Community“) rund um die Immobilie.
Respekt vor gewachsenen Strukturen
Um die Menschen zu begeistern, ist es wichtig, der gewachsenen Infrastruktur und der Historie des Standorts mit Respekt zu begegnen, ein gutes Gespür für den Standort zu entwickeln. Viel Verständnis für das soziale Gefüge am Standort gehört zwingend dazu. Dabei steht das Ziel im Vordergrund, Neues zu schaffen und zusätzliche Frequenz für den Standort zu erreichen – und das unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung und eventueller Denkmalschutzauflagen. Gleiches Prinzip gilt auch für das Innenleben. Die Historie des Gebäudes sollte bei großen Entwicklungsprojekten immer auch in der Innengestaltung sichtbar bleiben. Dazu passt, wenn Geschäfte und Restaurants mit regionalem Bezug gegenüber überregionalen Ketten bevorzugt werden, um ein einzigartiges Nutzererlebnis zu schaffen.
Damit die Immobilie als Teil der Community allseits akzeptiert wird, muss sie auch ihren Teil zum örtlichen Leben beitragen. Koch-Events, Jazz-Konzerte, Bauernmärkte, Spiele-Parcours sowie Kunstausstellungen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Beliebt sind in den USA auch Charity-Veranstaltungen. Und wenn es passt, kann das Objektmanagement auch immer seine Mieter mit ihren eigenen Angeboten teilhaben lassen und die Nachbarschaft in die Planungen einbeziehen. Nur wenn auf allen Ebenen mit allen Menschen vor Ort interagiert wird, entsteht ein vitales Quartier, das einen Anziehungspunkt im Viertel darstellt und dauerhaft attraktiv ist.
Aus einem vernachlässigten Standort wird ein aufstrebendes Stadtviertel
Ein Beispiel, das alle diese Aspekte vereint, ist Ponce City Market (PCM) in Atlanta. 1926 erbaut begann nach 50 Jahren gewerblicher Nutzung als zentrales Warenverteilzentrum der Verfall – am Ende stand dort nur noch eine freistehende Ruine.
Durch die Revitalisierung von Ponce City Market hat sich ein innenstadtnaher, aber vernachlässigter Standort zu einem aufstrebenden Stadtviertel entwickelt. In der Nachbarschaft des preisgekrönten PCM sind viele neue Projektentwicklungen entstanden. Mit durchschnittlich bis zu 15.000 Besuchern am Tag ist die gemischt genutzte Immobilie mit 259 Wohnungen, etlichen Büros in dem typischen Flair eines Industrieloft, 28 einzigartigen Gastronomieangeboten und zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten zu einer der meist frequentierten Orte Atlantas geworden. 1.300 neue Arbeitsplätze sind durch die Standortentwicklung geschaffen, insgesamt über 5.000 Beschäftigte gehen hier ihrem Beruf nach und es werden täglich mehr. Ein Freizeitpark auf dem Dach ist da nur noch das Sahnehäubchen.
Bei vielen der älteren Einwohner von Atlanta war die Erinnerung an die mächtige Lagerhalle aus rotem Backstein langsam verblasst. Heute aber, so sagen viele, ist die Erinnerung zurück. Der ursprüngliche Charme des Gebäudes mit seinem Turm und den vielen Fenstern blieb erhalten, und der alte Park nebenan, der „Historic Old Fourth Ward“, sei nun auch viel schöner geworden.
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