Lifestyle / Kultur
29 Januar 2023

Die neue Form des modernen Stadtlebens

Markante Immobilien prägen Viertel, lebendige Viertel prägen Immobilien. In besonderem Maße gilt beides bei Revitalisierungen alter Gebäude.

The Innovation and Design Building 20190328 87

Innovation and Design Building in Boston: Das 1915 erbaute, über lange Zeit heruntergekommene Gebäude ist heute wieder von jungen Leben erfüllt.

Die alten Männer von Boston kennen das lange Gebäude am Hafen noch zu gut. Manche haben hier in diesem 410 Meter langen Klotz noch für die Marine gearbeitet, als es als Lagerhaus der US-Armee diente. 50.000 Menschen hatten hier einst ihren Arbeitsplatz.

Das 1915 erbaute Gebäude kam später dann über die Jahrzehnte immer weiter herunter. Die Hälfte aller Flure auf den acht Stockwerken stand leer, ein Sanierungsfall. Jetzt aber erscheint es wie wachgeküsst. In neuem, weißem Glanz posiert der imposante Komplex wieder für die Ankömmlinge direkt am Hafeneingang von Boston und heißt „Innovation and Design Building“. Es beherbergt mittlerweile 100 Mieter aus Branchen wie Design, Forschung und Ingenieurwesen. Und der Sportartikelhersteller Reebok hat hier jetzt mit 1.500 Mitarbeitern seine neue Firmenzentrale.

Das Innovation and Design Building ist zum Anker der Bostoner Innovationswirtschaft avanciert. Und eines von vielen Beispielen, wie Projektentwickler historische, markante Gebäude wieder zu neuem Leben erwecken und dabei verschiedene Nutzungsarten wie Wohnen, Büro- und Einzelhandel in einem Gesamtkonzept miteinander verbinden. Mal ist es eine alte Fabrik, mal ein ehemaliges Verwaltungsgebäude oder ein leerstehender Block in zentraler Innenstadtlage. Ein globaler Trend und daher für Entwickler, Architekten und Städteplaner zunehmend zentrales Thema auf diversen Fachkongressen.

Die Immobilienexperten haben dafür einen neuen Begriff geprägt: Quartiersentwicklung – die Königsdisziplin der Projektentwicklung. Quartiere gelten unter Profis schon als eigene Assetklasse. Wurden früher Gebäudeteile getrennt betrachtet und veräußert, so erfolgen heute größere Bauvorhaben oder Umbauten in einem breit angelegten Projekt, in dem verschiedene Parteien ein Gesamtkonzept erarbeiten und gemeinsam umsetzen. Trotzdem garantiert dieser Ansatz nicht automatisch eine Erfolgsgeschichte. Leider entstehen auch immer wieder aus einer gewissen Lieblosigkeit heraus lediglich charakterlose Quartiere, die eher den Eindruck einer Geisterstadt vermitteln.

Worauf also achten verantwortungsvolle Projektentwickler? Es genügt eben nicht, wenn ein Wohnungsspezialist schöne Apartments baut und jemand anderes daneben Büros ausstattet und anschließend ein Dritter ein Restaurant eröffnet. Jedes Objekt steht in einer Wechselbeziehung mit seiner Umgebung und erst die Interaktion zwischen verschiedenen Nutzungsarten führt zu einem pulsierenden Quartier. Die Mischung macht’s: Wohnen und trendige Gastronomie gehören ebenso dazu wie Shopping- und Freizeitangebote, alles getragen von guter Anbindung an Bus und Bahn und E-Mobilität. An einem Ort arbeiten, wohnen und leben, lautet die Devise, wie in einem Dorf in der Stadt. Notwendig ist ein umfassendes Nutzungskonzept für die gesamte Umgebung aus einer Hand. Innovative Projektentwickler gehen dabei auf die Bedürfnisse der Mieter und Anwohner ein. Sie stimmen Gastronomiekonzepte aufeinander ab und die Beschilderungen folgen einem einheitlichen Konzept. Infrastruktur und Anbindung an verschiedene Verkehrsmittel werden im Zusammenspiel mit den Behörden detailliert geplant. Und schließlich entsteht in der Folge eine Gemeinschaft („Community“) rund um die Immobilie.

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Das Innovation and Design Building ist 410 Meter lang.

Respekt vor gewachsenen Strukturen

Um die Menschen zu begeistern ist es wichtig, der gewachsenen Infrastruktur und der Historie des Standorts mit Respekt zu begegnen, ein gutes Gespür für den Standort zu entwickeln. Viel Verständnis für das soziale Gefüge am Standort gehört zwingend dazu. Dabei steht das Ziel im Vordergrund, Neues zu schaffen und zusätzliche Frequenz für den Standort zu erreichen – und das unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung und eventueller Denkmalschutzauflagen. 

Gleiches gilt auch für das Innenleben. Die Historie des Gebäudes sollte bei großen Entwicklungsprojekten immer auch in der Innengestaltung sichtbar bleiben. Dazu passt, wenn Geschäfte und Restaurants mit regionalem Bezug gegenüber überregionalen Ketten bevorzugt werden, um ein einzigartiges Nutzererlebnis zu schaffen.

Damit die Immobilie als Teil der Community allseits akzeptiert wird, muss sie auch ihren Teil zum örtlichen Leben beitragen. Kochevents, Jazzkonzerte, Bauernmärkte,
Spieleparcours sowie Kunstausstellungen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Beliebt sind in den USA auch Charityveranstaltungen. Und wenn es passt, kann das Objektmanagement auch immer seine Mieter mit ihren eigenen Angeboten teilhaben lassen und die Nachbarschaft in die Planungen einbeziehen. Interagieren auf allen Ebenen mit allen Menschen vor Ort, nur so entsteht ein vitales Quartier, das einen Anziehungspunkt im Viertel darstellt und dauerhaft attraktiv ist.

Innovation and Design Building Jamestown 31 Boston 12 Menschen

Alte Schiffscontainer dienen als Restaurant.

Aus einem vernachlässigten Standort wird ein aufstrebendes Stadtviertel

Ein Beispiel, das alle diese Aspekte vereint, ist Ponce City Market (PCM) in Atlanta. 1926 erbaut, begann nach 50 Jahren gewerblicher Nutzung als zentrales Warenverteilzentrum der Verfall – am Ende stand dort nur noch eine frei stehende Ruine.

Durch die Revitalisierung von Ponce City Market hat sich ein innenstadtnaher, aber vernachlässigter Standort zu einem Szeneviertel entwickelt. In der Nachbarschaft des preisgekrönten PCM sind viele neue Projektentwicklungen entstanden. Mit durchschnittlich bis zu 15.000 Besuchern am Tag ist die gemischt genutzte Immobilie mit 259 Wohnungen, etlichen Büros in dem typischen Flair eines Industrielofts, 39 einzigartigen Gastronomieangeboten und zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten zu einem der meist frequentierten Orte Atlantas geworden. 1.300 neue Arbeitsplätze sind durch die Standortentwicklung geschaffen, insgesamt über 5.000 Beschäftigte gehen hier ihrem Beruf nach und es werden täglich mehr. Ein Freizeitpark auf dem Dach ist da nur noch das Sahnehäubchen.

Bei vielen der älteren Einwohner von Atlanta war die Erinnerung an die mächtige Lagerhalle aus rotem Backstein langsam verblasst. Heute aber, so sagen viele, ist die Erinnerung zurück. Der ursprüngliche Charme des Gebäudes mit seinem Turm und den vielen Fenstern blieb erhalten, und der alte Park nebenan, der „Historic Old Fourth Ward“, sei nun auch viel schöner geworden.

Ponce City Market: Gespür für den Standort

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